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Rumänien: Ein Einblick in Land und anarchistische Gegenwart 

Rumänien und seine soziale Situation gerieten in den letzten Monaten verstärkt in das Blickfeld der weltweiten Öffentlichkeit. Diktiert vom Internationalen Währungsfond und willig durchgesetzt von der Regierung kam es im Land zu weiteren massiven sozialen Einschnitten in allen Lebensbereichen. Eine Aufzählung aller Verschlechterungen würde den Umfang dieses Artikels deutlich sprengen, zumal der Sozialabbau munter weitergeht.

Soziale Situation 

Wie in anderen Ländern auch sind besonders die Lohnabhängigen die Betroffenen der Kürzungen. Alle im öffentlichen Dienst Beschäftigten mussten in diesem Jahr Lohneinbußen von 25% hinnehmen. Und dies, nachdem im Jahr 2009 die Bezüge bereits um 15% reduziert worden waren. Für das Jahr 2011 wurde bereits ein Einstellungsstopp verkündet, mit dem Zusatz, die wöchentliche Arbeitszeit auszudehnen (ohne Lohnerhöhung versteht sich). Auch den Rentnerinnen und Rentnern wurden die Renten gekürzt, vom 1. Januar 2011 an, müssen sie diese zusätzlich noch versteuren. Die kostenlose medizinische Versorgung für RentnerInnen, z.B. bei Diabetes, wurde abgeschafft. Zusätzlich wurde die Mehrwertsteuer auf 24% erhöht, und das bei permanent steigenden Preisen in allen Lebensbereichen (Gas, Wasser, Elektrizität, Transport, Lebensmittel). Ein anarcho-syndikalistischer Genosse aus Bukarest spricht davon, dass aufgrund dieser Politik ein Genozid an alten Menschen stattfindet. „…2010 und 2011 werden die Jahre mit der höchsten Sterberate unter den RenterInnen sein. Mit ihren Unterstützungs-Renten waren sie schon jetzt nicht zu mehr in der Lage, als Essen zu kaufen. Ohne medizinische Unterstützung (die Regierung hat bereits zahlreiche medizinische Versorgungsstätten geschlossen) und ohne finanzielle Unterstützung für Heizung und andere Notwendigkeiten; – diese Jahre die kommen, werden die allerschlimmsten in den letzten 60 Jahren für sie sein. Diese Einsparungen sind nichts anderes als ein Genozid." [1]

Für 2011 ist ebenso die abermalige „Modifizierung des Arbeitsrechts“, des „Codul Muncii“ angekündigt. Wie immer werden die Veränderungen zum Nachteil der Lohnabhängigen sein. Geplant ist u.a. die gesetzliche Legalisierung eines 12-Stunden-Arbeitstages. Von den durch und durch korrupten Gewerkschaften ist dagegen – wie bei allen vorherigen Verschlechterungen - keinerlei effektive Gegenwehr zu erwarten. Weiterhin wird nun auch das Kindergeld drastisch gekürzt und die Freistellungszeit der Mütter von der Lohnarbeit beschnitten. Gegen diese im Dezember 2010 bekannt gewordenen Pläne gab es Proteste vor dem Regierungssitz in Bukarest, an welchen sich knapp 50 Menschen beteiligten. Doch auch dies wird zu nichts anderem als einer kurzzeitig sichtbaren Entladung von Unzufriedenheit führen. Schon zuvor im Sommer 2010 sind die für rumänische Verhältnisse großen Proteste (mehrere 10.000 Menschen gingen auf die Strassen) ohne wirklichen ökonomischen Druck wirkungslos verpufft. Erwartungsgemäß blieb das Gerede der gelben und korrupten Gewerkschaften vom „Generalstreik“ leeres Geschwätz. 

Auswanderung 

Die tägliche existenzbedrohende Situation führt schon seit Jahrzehnten zur Auswanderung. Nach offiziellen Angaben der Weltbank verließen 2010 2,77 Millionen Rumänen das Land. Viele von ihnen hinterlassen Kinder. Die vielen Millionen von Euro, die diese „Auslandsrumänen“ in ihre „Heimat“ transferieren, sind mittlerweile ein fest einkalkulierter Teil der inner-rumänischen Ökonomie, was sich nicht zuletzt an steigenden Mietpreisen festmacht. Viele Vermieter spekulieren auf die Überweisungen an Familienangehörige. So sind die Mietpreise auf einem ähnlich hohen Stand wie in Deutschland. 

Hinwendung zu Glauben und Nationalismus 

Der in Rumänien ohnehin traditionell starke Nationalismus und die sehr mächtige und extrem-reaktionäre christlich-orthodoxe Kirche sind die Nutznießer der sozialen Angriffe. Anstatt den Dingen auf den Grund zu gehen, flüchtet der Großteil der Menschen in die reaktionären Bewegungen. Antikapitalistische Gruppen erfahren kaum Zuwachs. Stattdessen wird noch das letzte bisschen Geld einem Priester in der Kirche in die Hand gedrückt, um sich auf diese Weise die namentliche Erwähnung in laut vorgetragenen Bitt-Litaneien zu sichern. Die Kirchen sind voll, religiöser Irrglaube nimmt zu und gemäß den Geboten der rumänisch-orthodoxen Kirche wird für die „Führer des Landes“, also die Regierung, gebetet. Die Regierung selber hat erst kürzlich zusammen mit dem Parlament eine rassistische Gesetzesänderung beschlossen. Die bisherige Benennung von Roma als solche in offiziellen Schriftstücken und Verlautbarungen wurde Ende November 2010 abgeschafft. Von nun an werden Roma offiziell als „Zigeuner“ (Ţigani) bezeichnet. Die Regierung begründete diesen Schritt, zu dem sie viel Beifall erhielt, mit der „Verwechslung von Rumänen mit Zigeunern“.  

Zwar sind die Wahlergebnisse der offen rechtsextremen und faschistischen Parteien rückläufig, der Nationalismus ist jedoch eine tägliche Konstante, und die regierenden Parteien stehen den Rechtsextremen auch kaum nach. In den Schulen gibt es von der Regierung abgesegnete Wettbewerbe für Kinder unter Titeln wie „Warum wir stolz sind, Rumänen zu sein“, „Unsere christlichen Werte gegen eine Welt des Materialismus“, „Schutz unserer traditionellen Werte“ oder „Rückbesinnung auf das Rumänentum“. Schon den kleinsten wird dieser nationalistische und von geschichtlichen Lügen durchsetzte Müll erzählt. Zum Dank fürs Zuhören werden Schulen geschlossen, LehrerInnen entlassen und Lehrmittel, vor allem Bücher, gestrichen. Rumänien ist übrigens auch ein Land, das die Evolutionstheorie der Welt offiziell leugnet, und die Kreationistische religiöse Doktrin, von der Erschaffung der Welt durch einen allmächtigen Gott, zur Grundlage gemacht hat! Weiterhin gibt es noch heute mehr als 40 Denkmäler und zahlreiche Strassen mit dem Namen des Faschisten und Hitler-Verbündeten Marschall Antonescu.

Die neo-legionäre faschistische rumänische Bewegung, die sich hauptsächlich in Gestalt von „Noua Dreapta“ (Neue Rechte) wieder findet, konnte in den letzten Jahren neue Gruppen gründen. Seit Herbst ist sie dabei, Unterstützungsunterschriften für die Zulassung einer neuen nationalistischen Partei zu sammeln, um mit dieser an Wahlen teilzunehmen. Neben den orthodoxen Neo-Legionären der Noua Dreapta, haben sich in einigen Städten auch nach deutschem Vorbild „Autonome Nationalisten“ gebildet. Diese Neofaschisten sind weitestgehend gesellschaftlich völlig akzeptiert. Aktive Mitglieder von Noua Dreapta schreiben u.a. auch für Lokalzeitungen und betreiben damit weitere Beeinflussung. Zwischen den Neolegionären und der orthodoxen Kirche gibt es auch keinerlei Berührungsängste. Regelmäßig kommt es zu gemeinsamen Messen und bei Gedenkkundgebungen für den historischen Führer der Legionäre, Corneliu Codreanu, sieht man Priester und Grünhemden Seite an Seite. In einem Interview äußerten sich Genossen der Anarchistischen Föderation (Federatia Anarhista) dahingehend, dass sie der Auffassung sind, dass Noua Dreapta vom Inlandsgeheimdienst SRI unterstützt wird. (Insgesamt hat Rumänien 8 Geheimdienste!). [2]

Die anarchistische Szene im Land 

Wie unschwer zu erraten, ist die anarchistische Szene in Rumänien mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Neben einer erz-reaktionären Umwelt und der Armut gehören zu den weiteren Problemen vor allem die staatliche Repression sowie die Uneinigkeit der Szene. 

Polizei und Geheimdienste haben mit ihrer Repression – auch im Zusammenspiel mit Neofaschisten -  bereits in mehreren Städten anarchistische Gruppen zermürbt und zerschlagen. Nahezu unbemerkt von der anarchistischen Weltöffentlichkeit hat der rumänische Staat Genossinnen und Genossen dazu gebracht, das Land zu verlassen. Diese politische Verfolgung führt immer wieder zu Diskussionen innerhalb der aktiven GenossInnen, wie der staatlichen Repression am besten zu begegnen ist. Nach Auffassung eines langjährigen Genossen muss es dabei „eine Lösung geben, die zwischen der Wahl zu Held oder Märtyrer liegt“.

Mit welchen Schwierigkeiten alleine bei der Genehmigung einer Demonstration zu rechnen ist, macht das bereits erwähnte Interview mit den GenossInnen aus Ia­şi deutlich, auf das hier auch in diesem Zusammenhang noch einmal hingewiesen sei. 

Lifestyle-Anarchismus oder revolutionärer Anarchismus/Anarcho-Syndikalismus 

Ein strittiges Problem stellt der weit verbreitete Lifestyle Anarchismus in der Szene dar. Zahlreiche Gruppen verfolgen keine wie auch immer geartete gesellschaftliche Strategie. Stattdessen bestimmen die Organisation von Punk-Konzerten und Partys die Aktivitäten, Klassenkampf wird verworfen. Dieser Lifestyle-Anarchismus wird von der Anarchistischen Föderation aus Iaşi sowie der neu gebildeten Anarcho-Syndikalistischen Initiative kritisiert. Beiden geht es um den Aufbau anarchistischer Strukturen und das Eingreifen in die Gesellschaft. In Bukarest gibt es mit der „Biblioteca Alternativa“ ein anarchistisches Wohnprojekt mit Bibliothek und regelmäßigen Veranstaltungen. 

Die Alternative Bibliothek 

Zum öffentlichen Programm der Alternativen Bibliothek gehören zahlreiche, in der Regel wöchentlich angebotene Veranstaltungen. Diese reichen von Lesungen und Filmvorführungen bis zu Workshops. Regelmäßig gibt es einen feministischen Lesezirkel, und zum Jahrestag der spanischen Revolution gab es ein mehrtägiges Programm mit Debatten über ihre Bedeutung und Ansatzpunkten für heute. Zudem sind die Bücher der Bibliothek entleihbar. Buchspenden sind willkommen. Bis zum Herbst 2010 hatte die Bibliothek ihren Sitz im Arbeiterstadtteil Giuleşti. Ende Juli 2010 erschien in der fälschlicherweise als seriös geltenden Tageszeitung „Romania Libera“ ein Artikel zweier RedakteurInnen gespickt mit Klischees und Lügen, dessen Ziel die Diskreditierung der Arbeit der GenossInnen der Bibliothek war. In den Kommentarspalten wurde der Ruf nach Schließung der Bibliothek und der geheimdienstlichen Überwachung der GenossInnen laut. In einer umfangreichen Antwort reagierten diese auf die falschen Anwürfe. Die Bibliothek befindet sich nach ihrem Umzug nun in deutlich zentralerer Position in Bukarest.  

Die Anarchistische Föderation 

Die Federaţia Anarhista ist eine aktive Gruppe in Iaşi. Die GenossInnen betreiben eine regelmäßig gepflegte Webseite, übersetzen anarchistische Texte in die rumänische Sprache und sind schon seit einigen Jahren in der Bewegung aktiv. 2009 waren sie die einzige anarchistische Gruppe in Rumänien, die - unter schweren bürokratischen und entwürdigenden Bedingungen - eine antifaschistische Demonstration anmeldete, an welcher am 9.11.2009 an die 50 GenossInnen teilnahmen. Die anarchistische Agitation ist in der Stadt bemerkbar und gemeinsam mit Roma-Familien kam es im Juli 2007 zur Besetzung eines leer stehenden Kinos in der Innenstadt. Es wurde als Wohn- und Veranstaltungsraum genutzt, bis auf Druck der Kirche, die das Grundstück als Eigentum beanspruchte und „Recht“ erhielt, die Besetzung beendet wurde. Das Kino steht noch heute leer. Die der Sache des Anarchismus sehr ergebenen GenossInnen verfügen über zahlreiche Erfahrungen im Kampf und bestechen durch ihre Klarsichtigkeit. 

Die Anarcho-Syndikalistische Initiative 

Im November 2010 gründete sich die Initiativa Anarho-Sindicalista Romania (I.A.S.R.), die Anarcho-Syndikalistische Initiative. Ihr gehören mittlerweile GenossInnen aus mehreren Städten an. Ihr Ziel ist der Aufbau einer anarcho-syndikalistischen Organisation, welche es in Rumänien seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat. Zu den ersten öffentlichen Aktivitäten der Gruppe gehörte die Übersetzung und Veröffentlichung der „Prinzipien des revolutionären Syndikalismus“, des (zeitlosen) Grundsatzdokuments der (anarcho-) syndikalistischen Arbeiterbewegung. In einem aktuellen Interview sagt ein Genosse der IAS: „Die Initiative in ihrem jetzigen Zustand ist ein rumänisches anarcho-syndikalistisches Informations-Bulletin, und die Hauptabsicht davon ist, Aufmerksamkeit zu erzielen und vielleicht in naher Zukunft eine Gewerkschaft aus ihr heraus zu bilden. […] Wir wollen uns ausdehnen und soziale Ziele verfolgen, die von der rumänischen Arbeiterklasse verstanden werden können. Wir möchten alles aufgreifen, von den alltäglichen Arbeitskämpfen zu Alternativen bei Arbeitsproblemen bis schlussendlich Alternativen zum Kapitalismus insgesamt." [3] Der von der IAS betriebene Blog greift täglich aktuelle Themen auf und bietet auch historische Rückblicke auf nahezu vergessene Ereignisse. Im Dezember informierte die IAS so über die Gründung der unabhängigen „Gewerkschaft 15. November“ in Braşov im Jahr 1990 nach dem Sturz der Ceausescu-Diktatur. Mit der IAS sind endlich wieder zielstrebige und klarsichtige Anarcho-SyndikalistInnen in Rumänien öffentlich wahrnehmbar. 

Die Aufgaben und die Probleme für die anarchistische/anarcho-syndikalistische Bewegung in Rumänien sind gewaltig. Es ist wichtig, dass die internationale anarchistische/anarcho-syndikalistische Bewegung ihre GenossInnen dort solidarisch unterstützt und eine gemeinsame Zusammenarbeit entwickelt. Kein Land darf der Reaktion überlassen sein. 

M.V.


[1] Siehe „Die Leute haben nichts zu verlieren“ – Interview mit einem rumänischen Anarchosyndikalisten zu den Protesten gegen die Sparmaßnahmen der Regierung auf www.syndikalismus.tk

[2] Das Interview mit dem Titel „Interview mit AnarchistInnen aus Iaşi (Rumänien)“ ist sehr ausführlich und vermittelt einen guten Einblick in das Land und die Schwierigkeiten, mit denen die GenossInnen konfrontiert sind. Es findet sich u.a. auf dem Infoblog des Anarcho-Syndikalistischen Info-Dienstes Rumänien http://asinforomania.wordpress.com.

[3] Ein aufschlussreiches Interview mit der IAS findet sich ebenfalls auf dem Blog des Anarcho-Syndikalistischen Info-Dienstes.

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