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Friederike Kamann/Wolfgang Haug: Interview mit Augustin Souchy (1982)

Anläßlich seines bevorstehenden 90sten Geburtstages am 28.8.82 besuchten SF-Redaktionsmitglieder Augustin Souchy in seiner Münchener Wohnung. Das Interview vom 17.7.82 führten Friederike Kamann und Wolfgang Haug, die Photos mache Bernhard Weiss. SF-Leser, die über die nachfolgenden Interviewfragen hinausgehend Interesse haben, seien darauf verwiesen, dass das ZDF für den Abend des 27.8. ein Interview mit Augustin Souchy plant.

SF: Du hast in aller Welt anarchistische oder anarchosyndikalistische Bewegungen beobachtet und mitbeeinflußt. Obwohl es auch heute wieder Anarchisten in der BRD gibt, so tun sie sich doch überaus schwer, als politische Kraft ernstgenommen zu werden. Fühlst du dich deshalb als Fossil oder siehst du Bezugspunkte für dich?

A.S.: Das ist eine schwierige Frage, weil heute tatsächlich die anarchistische Bewegung in allen Ländern kleiner ist als früher. In Argentinien hatten die Anarchisten beispielsweise 20 Jahre lang eine Tageszeitung, La Protesta; die wurde bereits früher unterdrückt, aber jetzt kommt sie überhaupt nicht mehr heraus, weil in Argentinien alles verboten ist. In Spanien kommen zwar Zeitungen heraus, aber die FAI als solche ist in Spanien nicht mehr organisiert, weil die Militanten fast alle im Ausland geblieben sind. In Mexiko geben die Spanier eine Zeitung heraus, aber auch von geringem Einfluß, und in Nordamerika gab es früher die „Freie Arbeiter Stimme“, eine jiddische Zeitung für die auch ich Jahrzehnte Mitarbeiter war; sie kommt auch nicht mehr heraus.

Aber ich habe hier andererseits eine Zeitung, die kommt aus Japan. In England gibt’s die alte „Freedom“ und diesen Verlag Cienfuegos (zum Herbst erscheint dort die englischsprachige Ausgabe von „Vorsicht Anarchist“). Cienfuegos ist der Name eines anarchistischen Genossen der Federacion Libertaria aus Kuba. Er ist im Kampf gegen Batista verschwunden…(1)

Jedenfalls, die Bewegung ist nicht so stark wie früher, das muß man klar sehen; andererseits ist es aber so: von der Organisation her sind die Anarchisten nicht mehr so stark, aber die anarchistischen Ideen sind in viele Bevölkerungsschichten eingedrungen: nicht als „anarchistisch“, sondern als „antiautoritär“. Ihr wisst es ja von Deutschland selbst, es gibt ja in jeder größeren Stadt Zeitungen, die keiner politischen Partei zuzuordnen sind, …Stadtzeitungen; diese Bewegung ist nicht marxistisch, aber auch nicht rein anarchistisch…und von vielen werde ich des öfteren eingeladen, in Schweden und hier in Deutschland…

Die I-FAU hat es nach jahrelangem Hin- und Her zu einer bescheidenen Kontinuität gebracht. Trotzdem gibt es nur sehr wenige Aktivisten. Hat eine eigenständige Organisation noch Sinn, oder sollte man im DGB arbeiten oder ganz „Abschied vom Proletariat“ nehmen und sich auf die sozialen Bewegungen stürzen?

Hier in Deutschland ist es natürlich sehr schwer, eine neue anarchosyndikalistische Bewegung zu gründen. Nach Beendigung des Krieges wurde solch ein Versuch in Ostdeutschland, wo die Kommunisten die Macht übernahmen, verboten; in Westdeutschland versuchte man die FAUD wieder aufzubauen, aber es ist nicht gelungen, und heute ist das politische Klima dergestalt, dass es wohl nicht möglich sein dürfte, eine neue selbständige anarchosyndikalistische Gesellschaftsopposition aufzubauen. Dies trifft auch für Frankreich und Holland zu. Das einzige Land, wo es noch eine anarchosyndikalistische Bewegung gibt, ist Schweden; die nennt sich allerdings syndikalistisch, hat aber dieselben Grundzüge und war ja auch an die anarchosyndikalistische Internationale (IAA) angeschlossen. Sie haben heute 20.000 Mitglieder. In Deutschland ist es glaube ich sehr schwer; es wurde versucht, es gab ja in Frankfurt, im Ruhrgebiet verschiedenen Gruppen, aber sie sind sich nicht einig geworden, und das zeigt schon, dass das Klima nicht gut ist.

Aber dagegen ist folgendes zu beachten: die Anarcho-Syndikalisten haben sich früher doch für Dinge eingesetzt wie Selbstbestimmung und Übernahme der Betriebe; etwas was ja damals bei LIP in Frankreich der Fall gewesen ist; diese Ideen sind heute nicht ganz verschwunden und werden von gewissen oppositionellen Elementen innerhalb der reformistischen Gewerkschaftsbewegung aufgenommen.

Wie stehst du zu den neuen Wahlbewegungen in der BRD? Wir meinen jetzt die Grünen, die Alternativen Listen oder die neueste Hoffnung der „heimatlosen Linken“: die demokratischen Sozialisten? Sollten Anarchisten in diesen Sammlungsbewegungen mitarbeiten oder unterstützend wirken, um Einfluß auf lokaler Ebene zu erlangen?

Nein; ich bin der Ansicht, dass es weder moralischen, noch materiellen Wert haben könnte, sich an der Wahlpropaganda der Grünen und Alternativen zu beteiligen; dagegen könnte man die Forderungen, die diese aufstellen, außerhalb der Parlamente zum Teil unterstützen. Im Parlament wären wir genau wie die Grünen jetzt, nicht Fisch und nicht Fleisch. Aber an den Bewegungen müssen wir teilnehmen, nicht nur an der ökologischen, sondern insbesondere auch bei der Frage über Krieg. Das hab ich auch in meinen Briefen geschrieben,(2) da gibt es soviel zu tun; auch Abstimmungen eventuell; ich bin nicht grundsätzlich für oder gegen Abstimmungen. Z.B. beteiligen sich in Kanada viele Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen daran, da eine Abstimmung gegen den Krieg erfolgen soll. Oder all diese Versammlungen, Demonstrationen, auch die in Bonn oder die der Frauen von Skandinavien nach Paris, die jetzt nach Russland wollen, - an all diesen Bewegungen sollten Anarchisten teilnehmen.

Die Friedensbewegung orientiert sich momentan hauptsächlich auf die Nachrüstung. Rührt sie damit nicht nur an oberflächliche Symptome des Militarismus und müssten nicht auch noch ganz andere Zusammenhänge angesprochen werden?

Ich bin natürlich der Meinung, dass es nicht genügt, sich nur auf die Nachrüstung zu beschränken. Folgende fünf Punkte – würde ich vorschlagen – sollten die Anarchisten zu einer antimilitaristischen Bewegung beitragen:
Abschaffung der Geheimdiplomatie und Veröffentlichung der Geheimarchive der auswärtigen Ämter aller Länder. Dazu möchte ich noch sagen, dass dies von Lenin vor dem 1. Weltkrieg gefordert wurde, noch ehe er an die Macht kam. Als er aber selber an die Macht kam, war’s aus damit.
Organisierung internationaler Volksabstimmungen in allen Ländern gegen den Krieg.
Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht und der stehenden Heere.
Sofortige Einstellung der Kriegswaffenproduktion und Umstellung der Produktion für friedliche Zwecke.
Einsetzung internationaler Kontrollkommissionen zur Überwachung dieser Maßnahmen.

Kannst du Vergleiche ziehen zwischen der heutigen Friedensbewegung und deiner Tätigkeit im Antimilitaristischen Büro 1923 in Holland?

Nach dem 1. Weltkrieg wurde ja die „No more war“- Bewegung gegründet, und in Holland war die Zentrale. Der Vater von Rudolf de Jong, Albert de Jong war der Sekretär. Und mit dem haben wir zusammengearbeitet. Es handelte sich dabei nicht um eine eigenen Organisationsarbeit, sondern wir wollten dann, wenn es nötig war eine breite Bewegung entfachen, in der alle mitarbeiten. Als vor 5 oder 6 Jahren in Dänemark ein Kongress der „No more war“- Bewegung war, habe ich vorgeschlagen, die alten antimilitaristischen Ansätze wieder zu beleben. Je stärker, umso besser; auf allen Gebieten. Das Wichtigste ist die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. Übrigens muß da noch gesagt werden: In England gibt es keine allgemeine Wehrpflicht, was allerdings die Engländer nicht davon abgehalten hat, in Falkland Krieg zu führen. Daher ist die zweite Forderung die nach der Abschaffung aller stehenden Heere.

Dann ist sehr wichtig, dass die Atomwaffen und alle Waffen überhaupt zerstört werden. Und dann habe ich noch vorgeschlagen, dass ein Tag im Jahr als Weltfriedenstag bestimmt werden soll. Ihr wisst ja wahrscheinlich, dass der 1. Mai auf die Manifestation der Anarchisten 1887 in Chicago zurückzuführen ist. Ähnlich wie der 1. Mai nicht als ein Weltfeiertag, sondern als ein Weltkampftag gedacht war, sollte das auch der Weltfriedenstag sein. Ich schlage den Tag der Sommersonnenwende vor, der fast von allen Völkern gefeiert wird – als Tag des Lichtes. Der Bereich der Rüstungskonversion – wir in England bei Lucas Aerospace – ist auch sehr wichtig, wie in der Rüstung Menschen arbeiten, die mit Rüstung nichts zu tun haben wollen, aber wenn die Fabriken ohne Ersatz geschossen würden, ihren Arbeitsplatz verlieren.

Was hältst du von den Friedensinitiativen der russischen Regierung? Wie beurteilst du die Verhandlung über die sofortige Einfrierung der Waffenarsenale in den beiden Blöcken?

Ich halte nicht viel von den Versprechungen der Russen. Alle Abrüstung müsste international kontrolliert werden, d.h. in Russland Amerikaner und in Amerika Russen. Die zuständigen Kommissionen dürfen nicht nur von Parlamentariern besetzt werden, sondern es müssten auch die antimilitaristischen oder pazifistischen Organisationen darin vertreten sein. Nicht nur von staatlicher Seite. Wir müssen selbst einschreiten. Ich bin nicht für die Basisdemokratie um ihrer selbst willen, aber gerade in diesem Bereich kann man sich ihrer bedienen; z.B. bei der Einstellung der Kriegsindustrie und Kontrolle durch die Völker selbst. Da sollen die Arbeiter die Gewerkschaften natürlich, aber auch die verschiedenen pazifistischen und antimilitaristischen Organisationen dabei vertreten sein.

Der Anarchismus in Spanien und die Rolle der Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg markieren ja bis heute noch den historischen Moment, in dem die meisten anarchistischen Ideen verwirklicht wurden. Du warst damals so etwas wie ein „Öffentlichkeitssekretär“. Kannst du uns kurz erzählen, wie es dazu kam, und was du beispielsweise zu tun hattest?

Ich war zehn Jahre lang Sekretär der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) in Berlin und bin als solcher öfter in Spanien gewesen. Noch vor Franco natürlich. Als Hitler zur Macht kam 1933, musste ich aus Deutschland flüchten. Das Sekretariat der IAA in Berlin wurde aufgelöst und vorläufig nach Holland verlegt. Im Jahre 1936 hatte Mussolini Äthiopien besetzt. Und da wollten die Genossen in Barcelona ein Meeting in der Stierkampfarena gegen den Faschismus veranstalten. Sie luden mich ein, daran teilzunehmen. Aber als ich dort einige Tage gewesen bin, wurde deutlich, dass Franco seinen Putsch vorbereitete. Da war es natürlich aus mit den Vorbereitungen für das Meeting. Es ging in die Gewerkschaftslokale, wo man sich vorbereitete, mit Gewehren usw.

Ich war später für 3 Tage im Radio und habe in französischer, englischer und deutscher Sprache gesagt, dass wir in Katalonien Franco besiegt haben. Die Information fürs Ausland war meine Arbeit dort. Dann bin ich auch ins Ausland gereist. Z.B. nach Frankreich zur Volksfrontregierung Leon Blum, um dort um Unterstützung durch Waffen zu bitten – aber es ist nicht viel daraus geworden.

Du hast in deinen Büchern viel von den kollektivierten Land- und Industriebetrieben geschrieben. Wie entstanden sie und was hältst du im Nachhinein für die wichtigsten Erfahrungen? Fanden überregionale Kongresse der Kollektive statt, wenn ja, wie verliefen sie, und was wurde dort beschlossen?

Die Kollektivierung ist nicht vom Himmel gefallen. Ich möchte einen interessanten Vergleich anstellen zwischen Spanien und Mexiko. In Mexiko brach 1911 eine Revolution aus und war schon 1917 beendet, als die russische noch gar nicht begonnen hatte. Die Forderungen der Revolutionäre waren: 1. Abschaffung der Wiederwahl eines Präsidenten, weil der regierende Präsident 35 Jahre an der Macht war. 2. Es wurde von den mexikanischen Bauern Land gefordert, das ihnen von den Conquistadoren und der Kirche genommen worden war. Mexiko war das erste Land, das eine Agrarreform durchführte, sodaß jeder Mexikaner, der kein Land hatte, Grund und Boden bekommen konnte 3. als dies geschah, stellte sich die Frage: Was sollte man damit tun? Es hat ja jeder für sich gearbeitet. Der Geist kollektiver Arbeit fehlte. Also blieb Mexiko bis heute ein Land, das so kapitalistisch ist wie alle anderen.

Aber in Spanien hatten wir schon im vorigen Jahrhundert damit begonnen, uns mit Kollektivierungen zu befassen. Die Sozialdemokraten wollten ein Gesetz zur Aufteilung von Grund und Boden einbringen. Aber die Anarchisten und Anarchosyndikalisten haben sich damit nicht beschäftigt, sondern die Bauern und Landarbeiter sollten selbst das Land in ihre Hände nehmen und es kollektiv bebauen. Und tatsächlich, auf dem Kongress der CNT im Jahre 1931 wurde beschlossen, anstatt auf eine Agrarreform zu warten, das Land selbst in die Hände zu nehmen und zu bebauen. Das war schon lange Jahrzehnte in der Bewegung der spanischen Anarchosyndikalisten ein Problem, mit dem sie sich beschäftigten. Sie waren damit vertraut, als der Bürgerkrieg ausbrach. Und tatsächlich, überall, wo Franco geschlagen wurde, wurde dann diese Kollektivierung sofort durchgeführt. Es war eine alte Forderung der Anarchosyndikalisten, dass die soziale Revolution nicht durch Gesetze vom Staat von oben eingeführt wird, sondern von unten durch die Arbeiter und Bauern.

Ein Beispiel: Vor Franco gab es in Barcelona drei verschiedene Verkehrsunternehmen. Eins für die Untergrundbahn, ein anderes für die Straßenbahn und eines für die Autobusse. Alle drei waren privat und unabhängig voneinander, während die Arbeiter in einer Transportgewerkschaft waren. Sie beriefen eine Versammlung ein, wo beschlossen wurde, dass sie die Betriebe zusammen übernehmen werden. Die Direktoren wurden sowieso abgeschafft. Die Gehälter der Straßenbahner wurden erhöht, die Arbeitszeit wurde herabgesetzt. Diese Reformen haben wir auf einer einzigen Versammlung eingeführt. Erst vier bis fünf Monate später, als die politische Situation so schwierig war, dass die CNT die Wahl hatte, sich ganz zurückzuziehen oder die Macht allein zu übernehmen, hatte sie keinen anderen Ausweg, als mit anderen Richtungen zusammenzuarbeiten. Die CNT nahm an der Regierung teil, denn sonst hätte die CNT die Befehle der Minister der anderen Gruppen befolgen müssen. Das wollten und konnten sie natürlich nicht tun. Sie beteiligten sich an der Regierung und haben die Kollektivierungen legalisiert.

Im August 1936 gab es in Barcelona eine Konferenz der Landkollektive von Katalonien, und im Juni 1937 gab es in Valencia einen Kongreß aller kollektivierten Unternehmungen, sowohl landwirtschaftlicher wie industrieller Art. Ich habe selbst dran teilgenommen, allerdings nicht als Delegierter, sondern als Berichterstatter. Da gab es eine sehr interessante Diskussion über die Frage, wie die Entlohnung sein sollte. Die Landarbeitervertreter traten für das Prinzip ein „Jeder nach seinen Bedürfnissen“. Und die von den Industriebetrieben – es waren ja nicht alle Anarchisten - die wollten das nicht und waren für das Prinzip „Jeder nach seinen Leistungen“. Nach zwei Tagen Diskussionen gelangte man auf dem Kongress zu der Auffassung, keinen Beschluß zu fassen, den alle befolgen müssen.

Es gab keine einheitliche Kollektivierung, sondern jede Gruppe machte es so, wie sie es für gut befand. Eine sagte z.B., wir wollen kein Geld mehr, und sie haben das Geld ganz abgeschafft. Jeder bekam das, was er brauchte an Lebensmitteln usw. Und wenn er andere Dinge benötigte, die im Dorf selber nicht hergestellt wurden, tauschte man mit den Waren aus den Städten. Andere Kollektive haben das Geld beibehalten, vereinbarten aber für alle den gleichen Lohn. Es war eine freiwillige Kollektivierung, und dass ist der große Unterschied zwischen den spanischen Kollektivierungen und den russischen Kollektivierungen.

Wie wurde der Austausch zwischen den ländlichen und städtischen Produkten geregelt?

In Barcelona waren viele Geschäfte kollektiviert und untereinander organisiert. Die Kleinhändler betrieben eine Zentrale, wo die Bauern ihre Produkte hinbrachten und verkaufen konnten, teilweise direkt, teilweise gegen Kredit; das war nicht einheitlich. Die Bauern lieferten mit LKW’s an einen bestimmten Ort, und von dort aus wurde es verteilt.

Kannst du aus deiner Sicht kurz den Weg der CNT in der heutigen spanischen Gewerkschaftsbewegung beschreiben? Welche Rolle spielt sie noch?

Als Franco starb, war es die CNT, die während seiner Zeit am meisten verfolgt wurde. Es gab wenige Leute, die die anarchistischen Traditionen weiter fortführten. Franco hatte die Comisiones Obreras (CC.OO), eine Art staatliche Gewerkschaft gegründet.(3) Die anderen waren verboten. Der CC.OO beizutreten bedeutete, der Franco-Gewerkschaft beizutreten. Das wollten unsere Genossen nicht. Ebenso wenig die Sozialisten, die Kommunisten aber wohl. Als Franco starb, gründeten die Kommunisten eine eigene Gewerkschaft, unter dem Namen CC.OO. Und das war die stärkste Gewerkschaft in Spanien. Die CNT gehört zu den Schwächsten heute, unter anderem auch aufgrund ihrer Spaltung. Nach Francos Tod wurde eine Art „Betriebsrätegesetz“ verabschiedet. Dadurch wurden die Aktionen der Arbeiter an das Gesetz gebunden. Wenn z.B. die Arbeiter Forderungen stellten, verhandelten nur die Delegierten der Gewerkschaften mit den Unternehmern. In der CNT gab es zwei verschiedene Auffassungen hierzu:

Die einen sagten, das ist eine staatliche Organisation, in der wir nicht mitarbeiten wollen; die anderen sagten, wenn wir uns verweigern, dann entfernen wir uns von den Arbeitern. Die letzteren waren nicht absolut dafür, bei den Betriebsräten mitzumachen, wollten sich aber in bestimmten Situationen beteiligen. Trotzdem kam es zur Spaltung, sodaß es heute zwei CNT’s gibt. Eine in Madrid (CNT-M), und eine in Valencia (CNT-V).(4)

Wie stark sind beide jetzt?

Das ist schwer zu sagen. Wenn sie insgesamt 100.000 sind, ist es schon viel. Ich habe erfahren, dass die lokale Organisation von Barcelona 3.000 Mitglieder hat.

Und wozu gehört die Gruppe in Barcelona?

Die gehören zu Madrid und sind gegen eine Beteiligung an den Betriebsräten, während die in Valencia sich unter bestimmten Bedingungen daran beteiligen.

Wir wollen die Gelegenheit nutzen und dich zur FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands) der Weimarer Zeit und zu ihrer Zeitung „Der Syndikalist“ fragen. Beide sind heute nur noch wenigen bekannt. Deshalb bitten wir dich als ehemaligen Redakteur, kurz Entwicklung, Auflage und Verbreitung zu schildern.

Die FAUD entstand nach dem 1. Weltkrieg aus der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften, die nach dem Sozialistengesetz gegründet wurde. „Der Syndikalist“ war das Organ der FAUD und wurde jedem Mitglied gratis gegeben. Dadurch wussten wir genau, wie viele Mitglieder wir hatten.

Wurde die Zeitung überhaupt nicht verkauft?

Nur wenige. Daß auf der Straße oder in Fabriken verkauft wurde, mag es auch gegeben haben. Wenn ein Ortsverein Exemplare dafür bestellt hat, war das seine Sache.

Dann war also „Der Syndikalist“ kein Propagandablatt, sondern ein Mitgliederblatt.

Ja. Wir hatten einmal 120.000 Auflage. Das war aber auch das Höchste. 100.000 war so der Durchschnitt zur Zeit der Kämpfe im Ruhrgebiet (1923/24). Da waren die Syndikalisten mit im Vordergrund. In Düsseldorf hatten wir sogar eine Tageszeitung „Die Schöpfung“; sie kam ungefähr zwei Jahre lang als Tageszeitung heraus. Thematisch stand damals die Frage des Streikrechtes und – von Russland her – die Organisierung in Räten im Vordergrund. Es bildeten sich Betriebsräte; das haben wir unterstützt – aber nicht das spätere Betriebsrätegesetz, das nur für die großen Betriebe galt. Auch die Idee der direkten Aktion haben wir propagiert und eingesetzt. Als der Kapp-Putsch kam, haben wir den Widerstand in den Bezirken mitorganisiert. Wir haben also eine gewisse Rolle gespielt, aber die Mehrheit der Arbeiter organisierte sich im ADGB.

Wie war das Verhältnis der FAUD zu den anderen Linken und z.B. zur AAUE?

Mit denen haben wir zusammengearbeitet. Auch vor der Machtübernahme Hitlers, als es darum ging, Bewegungen dagegen zu unterstützen. Da war die AAUE von Otto Rühle und Franz Pfemfert. Es gab da verschiedene kleine Gruppierungen, auch die Anarchisten von Erich Mühsam.

Und wie sah diese Zusammenarbeit aus?

Wir hatten gemeinsame Versammlungen gegen den aufkommenden Faschismus. Im ökonomischen Bereich war ja alles durch die Tarifverträge geregelt; da haben wir uns nicht beteiligt – außer wo es unbedingt notwendig war. Aber dieser Ansatz war politischer Natur. Das war keine Organisation auf Dauer, sondern jedes Mal von Fall zu Fall.

Wie habt ihr auf die Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD über den sogenannten „Linksfaschismus“ reagiert?

Mit der KPD hatten wir nichts zu tun; z.B. als die Sache mit Sacco und Vanzetti war, hatten wir in Berlin eine Protestversammlung der Anarchosyndikalisten einberufen. Parallel gab es eine der Kommunisten. Die Versammlungen waren räumlich getrennt und doch gemeinsam für die gleiche Sache. Sonst hatten wir mit den Kommunisten nicht viel gemein – nur bei bestimmten Problemen.

Siehst du im Nachhinein irgendwelche Fehler in der FAUD-Politik?

Nein. Die FAUD hatte ja höchstens 100.000 Mitglieder und konnte keinen Einfluß auf die politischen Ereignisse in Deutschland ausüben. Sie konnte gar keine Fehler machen. In fast allen Betrieben hatte ja der ADGB die Mehrheit. Wenn es um Fragen ging, wie den Beginn der Militarisierung (Panzerkreuzer) oder den Abtreibungsparagraphen, haben wir immer die Position bezogen, die freien Menschen einnehmen mussten

Wir haben anfangs über aktuelle soziale Bewegungen gesprochen, die libertäre und antiautoritäre Ansätze enthalten. Dazu gehört auch die Diskussion um Selbstverwaltung. Zum Problem der Selbstverwaltung in Betrieben kamen u.a. mit der Solidarnosc auch viele Impulse aus Polen. Wie schätzt du die Bewegung der polnischen Arbeiterselbstverwaltung ein? Vielleicht verglichen mit dem jugoslawischen Modell?

In Jugoslawien ist es so, dass nicht das Wirtschaftsministerium allein von Belgrad aus bestimmt, wer einen Betrieb leitet, sondern in Übereinstimmung mit den lokalen Organen der Selbstverwaltung. Es ist dabei nicht ganz so zentralistisch wie das russische System, wo der Fabriksowjet nur noch Fragen sekundärer Bedeutung entscheidet, etwa Sicherheit, Hygiene…und keinen Einfluß auf die Produktion selbst hat. Aber in Jugoslawien wird der Betriebsleiter eben nicht von der Belegschaft allein gewählt, und sein Gehalt beträgt mehr als das Doppelte des Lohns der Arbeiter. Das entspricht nicht dem Begriff des „Sich-selbst-Verwaltens“ und ist auch nicht so dezentralistisch wie in Spanien `36. Da wählten die Arbeiter ihre Direktoren oder Ingenieure selbst. In Polen ist es ja nun so wie in Russland, das Ministerium bestimmt die Betriebsorganisation. Da hatten die Arbeiter nichts zu sagen – ihre Forderungen nach Selbstverwaltung kam aus dieser praktischen Erfahrung – nicht, weil sie die internationale Arbeiterbewegung kennt oder irgendwelche Ideale oder positive Postulate verwirklichen wollten. Dazu kam noch die durch den Zentralismus verursachte schlechte Wirtschaftslage. Ich glaube nicht, dass einer der polnischen Arbeiterführer die Geschichte der 1. Internationale kennt, - sondern allein aus praktischer Erfahrung…

Ähnlich war es in Israel bei den Kibuzzim; die gab es ja auch nicht, weil sie Kropotkin gelesen hatten. In Israel kamen die ersten Einwanderer bereits vor dem 1. Weltkrieg, zur Zeit der sozialistischen Siedlungsprojekte, - z.B. in Berlin-Oranienburg der ‚Garten Eden’ von Landauer, Oppenheimer, Gesell…Gleichzeitig entstand die zionistische Bewegung. Die ersten kamen nach Palästina in einer Gruppe von 100 Personen, Männer und Frauen, und jeder bekam vom zionistischen Komitee ein Stück Land. Und das hätten sie ja nun für sich selbst bebauen können. Denn das zionistische Komitee sagte nicht: Ihr müsst ein Kollektiv gründen! Sondern sie haben es aus praktischer Erwägung gemacht. Wasserleitungen, Straßenbau, Elektrizität, Felder anlegen – das hätten sie einzeln ja niemals fertig gebracht. Aus der gemeinsamen Arbeit ergab sich dann das kollektive Zusammenleben. Damit gingen sie im persönlichen Bereich noch weiter als die Spanier, die ja nach wie vor in ihren engen Kleinfamilien lebten, wie elend das auch immer war.

Wir erklärst du dir den Widerspruch zwischen dieser frühen Kibuzzbewegung und dem Nationalismus, den der Staat Israel heute gegenüber den Palästinensern praktiziert?

Das begann mit der allmählichen Einrichtung und dem Zustrom der Verfolgten unter Hitler. Von den ersten Einwanderern kann man sagen, dass sie grob gesagt Sozialisten waren, auch wenn die die marxistische oder anarchistische Lehre nicht unbedingt kannten. Die meisten aus Polen gehörten dem BUND an, der russisch sozialistischen Partei in Polen.

Der Nationalismus begann mit der Staatsgründung Israels. Es gab damals zwei Richtungen: die eine von Ben Gurion – er propagierte einen eigenen Judenstaat; die andere wurde verkörpert von Martin Buber, Professor Magnes, die den IHUT gründeten. Sie waren dafür, dass die Juden zusammen mit den Arabern einen Staat gründeten. Aber Ben Gurion hatte die Mehrheit. Hätten sie damals den Rat Martin Bubers befolgt, wäre die Situation heute eine ganz andere…

Und jetzt bei den letzten Wahlen wurde ja Begin Ministerpräsident, und da hat der Österreichische Bundeskanzler Kreisky ja nicht ganz unrecht, das ist ein halber Faschist, der Begin.

Wir haben am Schluß noch eine persönliche Frage: In deinem Buch „Vorsicht Anarchist!“ beschreibst du alle wichtigen Persönlichkeiten aus der anarchistischen Bewegung der Weimarer Zeit. Es fehlt aber fast ganz, was so die tägliche Kleinarbeit ausmachte, was du eigentlich tatest, wie du gelebt hast. Dabei handelt es sich doch um deine Memoiren. Hast du all dies bewusst ausgelassen, wurde es gekürzt, oder fehlt es deshalb, weil der Akzent auf politische Erinnerungen liegt?

Ja, das letzte ist der Fall. Ich sagte mir, das Persönliche hat keine Bedeutung.

Würdest du uns von dem Persönlichen auch ein bisschen was erzählen, weil es für uns ja auch um den Menschen Souchy geht?

Mein Vater war von seinem Vater her Handwerkermeister, hatte einen eigenen Betrieb und einen Laden, wo er die Waren verkaufte; Drechslermeister. Proletarischer Kleinbürger, oder wie nennt man das? Zuerst habe ich bei meinem Vater gearbeitet, dann ging ich nach Berlin und machte eine Ausbildung als chemischer Laborant, und damit verdiente ich mein Geld. Und da ging ich dann auch abends in die Bibliotheken und habe die ganze Literatur gelesen.

Dann ging ich nach Wien und arbeitete in einem Labor, und als der 1. Weltkrieg ausbrach, das habe ich ja schon geschrieben, wurde ich verhaftet, denn ich gehörte der Gruppe um die Befreiung an, die heute in Graz herauskommt; die hat den Ursprung in „Erkenntnis und Befreiung“ von Pierre Ramus. Wir waren vor allem Antimilitaristen. Alle, die nicht Österreicher waren, wurden ausgewiesen. Da wurde ich an einen anderen gefesselt und bekam einen Steckbrief, einen Zettel: „Vorsicht Anarchist!“

Und wie bist du überhaupt zur anarchistischen Bewegung gestoßen?

Mein Vater war Handwerksgeselle und wurde Sozialdemokrat, wie August Bebel –der war auch Drechslermeister, und war dann der bekannteste Sozialdemokrat in Ratibor, Oberschlesien, wo ich geboren bin…

Als Kinder wurden wir auf der Straße mit „Demokrat, Demokrat“ beschimpft.

Als ich nach Berlin ging, habe ich mir Adressen von dortigen Sozialdemokraten mitgenommen. Und dann ging ich einmal in eine Versammlung, in Neukölln in der Hasenheide, da sprachen Clara Zetkin und Gustav Landauer. Ich habe mir beide angehört, und Gustav Landauer hat mir besser gefallen. Am nächsten Tag ging ich dorthin, wo er seine Zeitung herausgab, den “Sozialist“, und allmählich wurde ich bekannter und befreundeter mit ihnen und kam so in die Bewegung.

Anmerkungen:

(1) (Anm.: Camilo Cienfuegos, Sohn eines anarch. Aktivisten und selbst Libertärer, kämpfte an der Seite Castros und Guevaras und starb nach dem Sieg über Batista unter mysteriösen Umständen. Man vermutet, dass Castro & Co. In seinem Flugzeug, mit dem er abstürzte, eine Bombe versteckten, um sich der Libertären in der Bewegung zu entledigen.)

(2) Mit den angesprochenen „Briefen“ meint Augustin Souchy offene Briefe an Breschnew und Reagan, in denen er die Abschaffung des Militärs fordert. Ursprünglich in der Zeitschrift „europäische Ideen“ veröffentlicht, wurden diese Briefe und weitere Gedanken zur Antikriegsbewegung in ein „Nachwort zur 4. Auflage“ von „Vorsicht Anarchist!“ aufgenommen. Das Buch, das vom Luchterhand-Verlag abgegeben wurde, erscheint zum Oktober im Trotzdem-Verlag Reutlingen und wird neben dem Nachwort noch durch ein Personenregister und Fotos erweitert.

(3) Hier irrt Augustin Souchy: Die CC.OO entstanden Anfang der 60er Jahre als autonome Arbeitergruppen bei den Minenstreiks in Asturien. Die KP Spaniens hat in jahrelanger Wühlarbeit diese Organisation vor den Karren ihrer Partei gespannt. Die Franco-Gewerkschaft hieß CNS. Richtig ist, dass die CC.OO und KP-Funktionäre in Francos letzten Lebensjahren einen massiven Entrismus in die CNT betrieben um an wichtige Schaltstellen zu gelangen, so dass sie 1975, nach Francos Tod, einen sehr guten „Start“ hatten.

(4) Die von Augustin Souchy CNT-M genannte CNT nennt sich selber CNT oder CNT 5. Kongress und beruft sich auf die Mehrheitsbeschlüsse des 5. CNT-Kongresses, 1979 in Madrid. Die etwas kleinere, von Souchy CNT-V genannte CNT nennt sich selber ebenfalls CNT (in Katalonien CGT) oder CNT impugnadora, d.h. die die Beschlüsse von Madrid zurückweisen, weil sie diesen Kongress für manipuliert halten. Beide Organisationen sind im Prinzip landesweit organisiert und haben in allen wichtigen Städten ihre jeweiligen Gruppen

Aus: Schwarzer Faden, Nr. 8 (1982)

Anm. www.syndikalismusforschung.info: Sternchen wurden als Fußnoten gesetzt.

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