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Anarchosyndikalismus damals und heute
Schwarze Katze Radiosendung

Anarchosyndikalismus damals - Schwarze Katze Interview mit Andreas von der Geschichtswerkstatt Dortmund

Schwarze Katze: Das meistgesprühte Zeichen der Welt ist das A im Kreis. Was bedeutet das eigentlich? In unregelmäßiger Folge wird es um die anarchistische Bewegung gehen. Heute Abend fangen wir mit der Geschichte des Anarchosyndikalismus an. Anarchisten streben eine herrschaftslose, gewaltfreie Gesellschaft an. Als Teil der Arbeiterbewegung sehen Anarchosyndikalisten die Gewerkschaften sowohl als Organ des Klassenkampfes als auch als Keimzelle einer besseren Gesellschaft. Nach dem Lied der Freien Arbeiter Union Deutschland "Es lebt noch eine Flamme" mehr zum Thema Anarchie. Bleiben Sie bitte dran!

Lied des Trutzes (Es lebt noch eine Flamme)
Text: Otto Erich Hartleben, nach Überlieferung durch A. Binder
Lied: Peter H. Ortmann, 1919 (Freie Sängergemeinschaft Rheinland Westfalen, DÜ - Freie Arbeiter Union Deutschland / FAUD)

Es lebt noch eine Flamme, es grünt noch eine Saat.
Verzage nicht, noch bange:
Im Anfang war die Tat!
Die finsteren Wolken lagern
schwer auf dem greisen Land.
Die welken Blätter rascheln,
was glänzt, ist Herbstesstand.
Den Blick zum Staub gewendet,
so hasten sie dahin.
Verdüstert ihre Stirnen,
dumpf und gemein ihr Sinn.

Doch seh ich Fäuste zittern
und Schläfen seh ich glüh´n.
Zornadern seh ich schwellen
und Augen trotzig sprüh´n.
Es lebt noch eine Flamme,
es grünt noch eine Saat.
Verzage nicht, noch bange:
Im Anfang war die Tat!


Schwarze Katze: Guten Abend, liebe Hörerinnen und Hörer. Heute abend werde wir uns mit dem Thema Anarchie beschäftigen. Eine Richtung des Anarchismus war und ist der Anarchosyndikalismus. Wir wollen heute Abend darüber reden, was Anarchosyndikalismus eigentlich ist. Ich sitze jetzt Andreas gegenüber, der sich schon ziemlich lange mit der Geschichte des Anarchismus in Dortmund und Westfalen beschäftigt. Hallo, Andreas.

Andreas: Ja, hallo.

Schwarze Katze: Du hast dich ja auch mit der Vorläuferorganisation der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), der Freien Arbeiter Union Deutschlands, also der FAUD, beschäftigt. In der Weimarer Republik war diese ziemlich aktiv und hatte in Spitzenzeiten laut "Freiheit und Brot" von Hartmut Rübner zwischen 150.000 und 170.000 Mitglieder. Kannst du mir etwas über die Geschichte der FAUD und ihrer Vorläuferorganisation erzählen?

Andreas: Während des Sozialistengesetzes waren alle Zentralgewerkschaften und die SPD-Lokalvereine verboten. Es konnten sich damals in den Städten und Dörfern auf gewerkschaftlicher Ebene nur Lokalvereine bilden. Diese hatten keine Zentrale in Berlin oder sonst wo mehr und waren quasi ziemlich selbstständig auf sich selber gestellt. Das waren die sogenannten Lokalvereine. 1890, als das Sozialistengesetz ausgesetzt worden ist, gab es dann wieder Bestrebungen diese Zentralvereine zu machen, aber die guten Erfahrungen, die mit der eigenständigen Selbstverwaltung dieser Gewerkschaftsgruppen vor Ort gemacht worden sind wollten viele beibehalten. Auch sehr viele, die damals in der SPD organisiert waren und die sich führend bei den Berg- oder den Metallarbeitern betätigt haben.

Und da gab´s dann zwei Gewerkschaftsstränge, einmal die Zentralvereine, die sich eben einer Zentrale unterstellt haben und weiterhin diese Lokalvereinigungen. Die Lokalvereinigungen haben sich dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts - 1897 - zur Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften zusammengeschlossen. Wo es immer noch so war, dass sie zwar eine Geschäftskommission hatten. Aber diese Geschäftskommission, ansässig in Berlin, durfte sich nicht in das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Ortsgruppen sich einmischen. Man muss sich damals vorstellen, links von der SPD gab es quasi nichts, also wie heute die verschiedenen K-Gruppen und was es alles gibt, gab´s damals alle noch nicht. Links von der SPD gab es nur die anarchistischen Gruppen. Und die SPD hat dann immer wieder versucht, zwischen den Zentralvereinen und den Lokalvereinen zu vermitteln und hat dann 1908 gesagt: "Wer jetzt noch Mitglied der Lokalvereine ist, der kann nicht mehr Mitglied der SPD sein." Quasi ein Unvereinbarkeitsbeschluss, um eben diese beiden großen Gewerkschaftsgruppierungen zu einer schlagkräftigen, starken Gewerkschaftsgruppe zusammenzufassen. Daraufhin sind viele, also knapp die Hälfte der Mitglieder, dann zu den Zentralvereinen übergewechselt. Die Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften hatte vor 1914 noch 8.000 Mitglieder.

Die Mitglieder der jetzt übrig gebliebenen Freien Vereinigung haben sich dann sehr stark den anarchistischen Positionen angenähert, weil es links von der SPD bis auf die Anarchisten eigentlich nichts gab. Und da kam es zu einer relativ starken Zusammenarbeit. In ganz vielen Punkten auch in theoretischen Grundlagen übereinstimmend, z.B. in der Generalstreikdebatte und gegen Krieg. Da kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen den anarchistischen Gruppierungen und dieser Freien Vereinigung.


Fromme Brüder (deutsche Übersetzung von The Preacher and the Slave, Joe Hill)

Fromme Brüder stehen da nach der Schicht.
Wollen euch lehren, was gut ist, was nicht.
Aber fragt ihr, wovon wird man satt,
nölen sie solche Sprüchlein vom Blatt:

Essen gibt´s noch und noch.
Für euch kocht schon der himmlische Koch.
Schafft euch Arbeit von heut.
Seid ihr oben mit Brot ohne Not.

Und die Heilsarmee kommt dann sofort.
Und sie tanzen und singen so laut.
Haben sie deinen Pfennig kassiert,
sagen sie, wenn dich hungert und friert:

Wenn du hart schaffst für Kinder und Frau.
Suchst was Gutes im Leben so grau.
Sagen sie:
Du alter Sünder gemein.
Du fährst sicher zur Hölle hinein.

Arbeitsleute der Welt kommt herbei.
Seit an Seit unser Kampf macht uns frei.
Und gehört uns die Erde so reich.
Singen wir für die Gauner sogleich:

Essen gibt´s noch und noch.
Wenn ihr erst selber radelt und kocht.
Hackt mal Holz - nur nicht stolz.
Und ihr wisst wie man isst noch und noch.

 

Schwarze Katze: Die Lokalisten konnten nach dem Ersten Weltkrieg ihre Organisationsform beibehalten. Wie ist das nach dem Ersten Weltkrieg denn da organisatorisch weitergelaufen?

Andreas: Im Weltkrieg sind natürlich sehr viele gefallen. Die sind als erste an die Front gestellt worden. Die Ortsgruppen waren dann oft auf einige Dutzend Leute heruntergeschrumpft - gerade hier im Ruhrgebiet. Und nach 1918 haben sie einen ganz großen Aufschwung genommen. Das hast du ja auch schon gerade erzählt. Also es sind Massen in diese Freien Vereinigungsgruppen eingetreten, weil sie einfach die Schnauze voll hatten von den Zentralverbänden und von der SPD, die diesen Burgfrieden gemacht hatten während des Ersten Weltkrieges - also das heisst mit dem Kaiser Schulterschluss gemacht haben. Nach 1918, nachdem der Kaiser abgedankt hatte, hat´s für die Menschen keine sozialen Veränderungen gegeben. Also man kann kurz und bündig sagen, die haben die Schnauze voll gehabt.

Links von der SPD gab´s zwar die USPD, aber auf gewerkschaftlicher Ebene gab es wirklich fast nur diese Freie Vereinigung, und der haben sich eben die Massen angeschlossen, die frustriert waren. Nur: Es waren natürlich alles keine Anarchisten oder so, das waren wirklich Menschen, die die Schnauze voll hatten, oft aktive Kirchengänger waren oder aktiv in ganz anderen Zusammenhängen, in Schützenvereinen und weiss der Henker in irgendwelchen Saarvereinigungen, die es damals gab, also "das Saarland zurück ins Reich" und so. Da waren die aktiv, aber nicht bei den Anarchisten. Dieser Apparat der Freien Vereinigung hatte sich innerhalb kürzester Zeit unheimlich aufgebläht. In Dortmund waren´s 1920 über 20.000 Mitglieder. Aber man kann nicht davon reden, dass es 20.000 Anarchisten und Anarchistinnen waren. Das war damals die Schwierigkeit gewesen. Ich hatte ja gesagt, es waren in Dortmund vielleicht noch 10, 20 Leute, die den Krieg überlebt hatten, und die konnten jetzt nicht 20.000 Leute agitieren und denen jetzt erzählen, was denn nun Anarchismus ist. Es waren "Gefühlsanarchisten". Und das hat sich natürlich hinterher auch ausgewirkt.

Nach 1922/23, als sie gemerkt haben:" Aha, es ist doch ein langer Weg bis zu einer freien Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen!", waren sehr viele resigniert, weil sie immer so eine Heilserwartung hatten: "Jetzt geht´s los! Jetzt machen wir unsere freie Gesellschaft!". Und es hat wieder nicht geklappt. Und die Freikorps kamen und haben die Leute niedergemetzelt. Und man war immer mit dem Rücken an der Wand, ab 1920 kann man sagen - und die großen Bewegungen waren vorbei. Da sind sehr viele ausgetreten bzw. haben sich solchen Gruppen wie der KPD, die eben platte Antworten auf komplizierte Fragen hatte, also "Diktatur des Proletariats" und ruckzuck wir gehen übers Parlament und erobern die politische Macht, angeschlossen.

Es war nun mal so, dass sich sehr viele eben zu diesen zentralistischen Organisationen hingewandt haben, bis selbst zur NSDAP. Mengede war eine relativ starke Ortsgruppe. Mengede ist ein Ort von Dortmund, ein Vorort heute. Über 1.000 Mitglieder. Und da haben die führenden Mitglieder dann eine der ersten NSDAP-Gruppen außerhalb Bayerns gegründet. Daran kann man sehen, es waren einfach Menschen, die auf der Suche waren, also auf der Suche nach einer freiheitlichen Gesellschaft und da sich oft verrannt haben. Bis 1925 war aber dieser Prozess abgeschlossen. Da war im Allgemeinen klar, was sie wollen, da hatten sie nicht mehr die Bedeutung, aber sie hatten einiges abgeklärt und der Klärungsprozess hat eben 5-6 Jahre dauern müssen. Über Nacht geht das nun mal alles nicht.

Schwarze Katze: Die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften hat sich im Dezember 1919 in Freie Arbeiter Union Deutschland, in die FAUD umbenannt. Die FAUD hatte damals ein ziemlich großes Umfeld. Was gab es da?

Andreas: Ja, ganz kurz zu dieser Umbenennung. Damit haben sie der Union Rechnung getragen. Es gab ja neben der Freien Vereinigung der anarchistisch ausgerichteten Gewerkschaftsgruppierung auch noch viele Unionen, also ich sag mal rätekommunistische Gruppierungen allen Lagers, aller Schattierungen, die sich auch mehrmals gespalten haben. Mit diesem Namen hatten sie sich auch anfangs oft bemüht, diese Gruppierung zusammenzufassen. Es ist richtig, der Großteil der Aktivitäten der FAUD lag erst mal auf den Betrieben. Daneben hatten sie allerdings auch ein reichhaltiges kulturelles Leben, das stimmt. Es gab Chöre, recht starke Chöre, in Fredenborm in Dortmund haben 600 Sänger und Sängerinnen ihre Werke aufgeführt.

Schwarze Katze: Die freiheitlichen Sozialisten, also die Anarchisten, haben nicht nur die ökonomische Frage als wichtig angesehen, sondern eben auch die kulturelle Frage. Die Kultur bewegt ja auch das Bewusstsein der Menschen und das Bewusstsein der Menschen wollten die Anarchisten ja verändern, um zu einer freiheitlichen Gesellschaft zu kommen. Wie haben sie das gemacht?

Andreas: Es gab eine Riesenpalette von kulturellen Aktivitäten. Es waren nicht nur die Sängerbünde, sondern eben auch Tageszeitungen. Im Ruhrgebiet gab es eine Tageszeitung "Die Schöpfung". Also eine reiche Presse. Sie hatten Büchereien, in denen Mitglieder sich informieren konnten. Das war auch ganz wichtig, weil man damals an die ganzen Bücher sehr schlecht heran kam. Und es war auch nicht das Geld vorhanden, sich diese zu kaufen. Dann gab es eine ganze Menge an Vereinen. Beispielsweise Sexualhygienevereine, die für die Kleinhaltung der Familie eintraten. Also Präservative und Salben und so etwas besorgten und billig verkauften und Veranstaltungen zu den Themen machten. Es gab Freidenkervereine. Konfessionslose Menschen sind damals versucht worden zusammenzufassen. Diese Vereine von Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, waren relativ stark. In einigen Städten gab es Baugenossenschaften, die Häuser stehen heute noch, die sie sich da hingesetzt haben.

Es gab Frauenbünde, also ist damals nicht nur versucht worden die Menschen im Betrieb zusammenzufassen; sondern gerade auch die Hausfrauen waren relativ stark, die gab es reichsweit. Es gab also eine ganze Menge an Aktivitäten, also die haben Feste aufgeführt zum 1. Mai oder Wintersonnenwende, Sommersonnenwende, wo dann Radfahrerbünde aufgetreten sind, wo Schalmeienkapellen gespielt haben. Sie hatten freie Kindergruppen, auch übers gesamte Reichsgebiet verteilt. Die hatten auch eine eigene Zeitung dann. Es gab Jugendgruppen: "Die Freie Jugend" oder die SAJD, die Syndikalistisch Anarchistische Jugend Deutschlands. Die war auch relativ stark, hatte auch ziemlich viel Einfluss. Die haben dann auch gegen Ende der Weimarer Zeit, also ab 1930/31, sogenannte "Schwarze Scharen" noch gebildet, die aktiv den Kampf gegen die Nazis aufgenommen haben - auch im Verein mit anderen Gruppierungen. Das kulturelle Spektrum war also außerordentlich groß. Es gab eine Gilde freiheitlicher Bücherfreunde. Die hat eigenständig einen Verlag gehabt, Bücher publiziert, die hatten eine Gildemitteilung, also so einen Rundbrief, wo also eine Menge Autoren damals publiziert haben und Nachrichten darin standen. Die Sachen sind zum Teil nach 1945 noch weitergeführt worden. Gerade diese Gilde.

Also man kann sagen, in ihren kulturellen Aktivitäten haben sie eigentlich überlebt. Das war wirklich das Standbein. Obwohl das eigentliche Standbein sollte ja der Betrieb sein. Im Betrieb aber ging der Einfluss ab 1925/26 rapide zurück, da die Mitglieder zurückgingen. Sie hatten zwar immer noch Betriebsräte, lokal wie in Sömmerda oder in Dortmund hatten sie bis 1933 auf der Union - hier bei Hoesch - noch immer Betriebsräte, aber da hatten sie nun mal eben nicht diesen Einfluss. Überlebt haben sie wirklich in ihren kulturellen Initiativen.

Schwarze Katze: Ein zentrales Mittel der Anarchosyndikalisten war und ist die direkte Aktion. Was ist hiermit gemeint? Und was ist damals unter direkten Aktionen gelaufen?

Andreas: Das war eine Riesenpalette, kann man sagen. Das war ja auch die Unterscheidung von den Zentralverbänden, weil die haben mit den Unternehmern verhandelt. Diese anarchistisch ausgerichteten Verbände, die haben eben gesagt: Wir verhandeln nicht, sondern wir erkämpfen es uns. 1919 lief im Ruhrgebiet eine große Streikwelle. Es ging um eine Menge Forderungen, wie u.a. die 6-Stunden-Schicht. Gut, heute würde man hingehen und sagen, okay, da setzen sich die Vertreter der Organisationen mit den Unternehmern hin, wie es jetzt bei der 35-Stunden-Woche war, und handeln das aus. Damals war es ganz anders! Die sind einfach nach 6 Stunden wieder ausgefahren aus dem Bergbau. Die haben ihre 6-Stunden-Schicht gemacht, haben dann noch eine vierte Schicht angelegt und haben nach sechs Stunden halt den Löffel fallen gelassen. Ähnlich wär's ja heute, man könnte sich heute vorstellen, nach 35 Stunden lassen die Mitglieder des DGB alle ihre Arbeit fallen und gehen nach Hause. Da kann man nichts machen. Damals stand´s in den Zeitungen, hier in der Trimonia, das war eine katholische Zeitung hier in Dortmund. Die Zechenleitung konnte davon nur Kenntnis nehmen und musste sich mit der Sachlage abfinden, wenn nun mal die ganze Belegschaft nach sechs Stunden ausfährt.

Es gab damals auch viele wilde Sozialisierungen von Betrieben, gerade Zechen. Bei den Bergarbeitern waren die Anarchisten damals sehr stark, d.h. also sie haben die Zechenleitung selber übernommen, z.B. auf der Zeche Viktoria bei Lünen. Die ist, glaube ich, vier bis sechs Wochen selbstverwaltet worden. In der Zeit war die 6-Stunden-Schicht eingeführt worden, in der Zeit ist wesentlich mehr und intensiver gearbeitet worden, so dass hinterher die wiedereingesetzte Zechenleitung denen noch Komplimente machen musste, wie klasse der Betrieb unter der selbstständigen Leitung gelaufen ist. Das ist damals unter "direkter Aktion" verstanden worden, wir verhandeln nicht, sondern wir setzen unsere Interessen durch. Da gibt es noch eine ganze Reihe von weiteren Beispielen. Ein Beispiel ist der Kapp-Putsch, wo im März 1920 rechte Generäle den alten Kaiser wieder herbeiputschen wollten und die Reichsregierung von Berlin aus geflohen ist und den allgemeinen Streik ausgerufen hat und im Ruhrgebiet eben die Menschen gesagt haben, wir wollen jetzt nicht nur den Ebert wiederhaben, sondern wir wollen unsere sozialistische Republik und endlich das, was uns da 1918 versprochen worden ist, das wollen wir jetzt nicht nur einklagen, sondern das setzen wir um!

Und in den Tagen hier, wo Kapp geputscht hat, und in den Tagen danach, haben sich im Ruhrgebiet überall Aktionsausschüsse gebildet, wo die Arbeiterparteien drin waren und auch die FAUD. Die Reichswehr ist natürlich wieder einmarschiert und hat diese ganzen Bemühungen zerschlagen. Aber in den achtzehn Tagen haben sie zum ersten Mal ihre Ideen auch in die Tat umsetzen können. Sie haben sich um so Kleinigkeiten gekümmert, dass Kuchenbacken verboten ist, weil da zu viel Zucker drin ist und Zucker hat nicht den großen Nährwert, sie haben Streit zwischen Nachbarn geschlichtet. Also diesen ganzen Kleinkram haben sie wirklich umgesetzt. Sie haben große Versammlungen gemacht, auf denen abgestimmt worden ist, was weiterhin zu tun ist. Sie haben aus den Betrieben in Dortmund und Oberhausen beispielsweise diese Aktionsausschüsse gebildet.

Es war also schon eine Instanz, diese Aktionsausschüsse, die auch schon auf Wahlen fußte, aber nicht auf allgemeinen Wahlen, sondern wirklich auf diesen Wahlen in den Betrieben. Weil die Anarchisten haben auch damals gesagt, in den Stadtteilen und in den Fabriken müssen die betroffenen Menschen selbst entscheiden. So wie es heute ist: Wir gehen ins Parlament und wählen uns einen Kanzler oder wir wählen eine Partei - und da gibt es ganz viele Interessen. Aber in den Betrieben gibt`s nur ein Interesse: Gute Sachen herzustellen. Und im Kapitalismus wird man halt ausgebeutet, d.h. da sind alle Menschen relativ gleich. Und deshalb haben sie gesagt, da muss man hingehen, wo also ein gemeinsames Interesse ist und aus den Betrieben diese neue Gesellschaft hervorgehen lassen. Deshalb war auch ganz klar, dass die Betriebe bestimmen auch, wer im Aktionsausschuss ist. Es ist also eine Menge probiert worden und es ist nur leider alles zerschlagen worden. In der Regel militärisch durch die Freikorps, durch die Reichswehr, die immer wieder einmarschiert ist, so dass man sagen kann, in Ansätzen hat's funktioniert, da hat diese, ich sag' mal, Gesellschaft, die sich diese freiheitlichen Sozialisten oder Anarchisten vorgestellt haben, funktioniert.

Es ist nur immer nach relativ kurzer Zeit zerschlagen worden, deshalb kann man heute spekulieren: Klappt so etwas? Klappt so etwas nicht? Aber wenn man eine freiheitliche Gesellschaft leben möchte, dann denke ich, ist es ganz wichtig, einfach mal anzufangen und zu gucken und auszuprobieren. So lange man das nicht macht, so lange entwickelt man sich auch nicht. Und ich denke, dass es da ganz wichtig ist, gucken zu können. Es gibt ganz viele Systeme, die alle keine Diktatur sind, sondern wirklich vom einzelnen Menschen ausgehen, die nicht ein parlamentarisches System sein müssen mit einem Kanzler an der Spitze, sondern die sich auch anders organisieren können, aber trotzdem zutiefst demokratisch sind. Also das sind Sachen, die man heute einfach wieder auf die Tagesordnung bringen muss, gerade wenn man sieht, was alles in den Kommunen, aber auch bundesweit verquer läuft. Dass wir heute vor dem Ozonloch stehen und die Umwelt umkippt, da muss man, glaube ich mal wirklich, auch halt fragen können, wie man das anders organisieren kann.

Schwarze Katze: Die Anarchosyndikalisten hatten ja damals ziemlich konkrete Vorstellungen von einer Änderung der Gesellschaft. Wie sahen diese Vorstellungen eines Rätesystems denn aus?

Andreas: Ja, ob man da Rätesystem zu sagen kann? Also sie haben damals gesagt: Es geht nicht darum, eine Diktatur oder einen Putsch zu machen, sondern der einzelne Mensch muss sich verändern. Und wenn sich die Menschen alle verändert haben, dann kann man erst die Gesellschaft verändern. Also der einzelne Mensch bietet die Grundlage für eine neue Gesellschaft. Deshalb haben sie unheimlich viel in Bildungsarbeit investiert, so dass der einzelne Mensch sich selbst bestimmen kann und sich nicht fremdbestimmen lässt. Das war eine ganz wichtige Angelegenheit damals, weil darauf fußt eben diese freiheitliche Gesellschaft.

Also sie haben gesagt, in unserer Organisation müssen wir schon so leben, oder ansatzweise schon so leben, wie wir es in unserer Gesellschaft mal haben möchten, also das schon heute vorwegnehmen in großen Teilen. D.h. also die Frauenfrage war eine ganz große Sache! Man kann nicht die Frauenbefreiung erst auf den Tag nach der freien Gesellschaft stellen, sondern man muss sie jetzt angehen. Wenn man sie jetzt nicht angeht, dann ist es auch zu spät, die dann noch hinterher regeln zu wollen.

Sie haben sich also zusammengeschlossen in Industrieföderationen, d.h. die jeweiligen Berufe haben sich zusammengeschlossen. Die Bergarbeiter vor Ort, die Metallarbeiter vor Ort, die Handwerker vor Ort, die Bauern vor Ort sind in einer gemeinsamen Arbeiterbörse zusammengekommen, d.h. die verschiedenen Berufe, die sich horizontal gebildet haben, haben sich nochmal vertikal in einer Arbeiterbörse zusammengefunden. Bei der sozialen Revolution wär's halt so vorgesehen gewesen, dass diese Arbeiterbörse quasi ein statistisches Büro wird, die sagen, wir gucken, wie der Bedarf vor Ort ist. D.h. wir nehmen auf auf was wird gebraucht an Lebensmitteln, an Konsumgütern und was haben wir hier an Industrie. Und das wird vernetzt, also Arbeiterbörse, Provinzarbeiterbörse, bis hin zu einer Reichsarbeiterbörse.

Es wird quasi vernetzt, wobei das Prinzip wieder ein ganz wichtiges ist, dass von unten nach oben gewählt wird, d.h. also es werden im Betrieb 3-4 Leute gewählt, die die Interessen des Betriebs auf der nächsthöheren Ebene vertreten. Diese Menschen sind jederzeit wieder abwählbar und sie haben ein Mandat, an das sie dann gebunden sind, nämlich das Mandat der Belegschaft, wo sie sagen, wir hätten gerne dies und jenes und daran müssen sie sich auch halten, wenn sie diese Belegschaft vertreten.

Ja, es ist ganz schlecht, in drei Sätzen so ein Rätemodell vorzustellen. Dazu könnte man ganz sicher, das würd´ sich auch mal lohnen, eine Sendung zu machen. Nur es ist wirklich ein Ding, in das man sich einarbeiten muss und was man auch erstmal nur theoretisch machen kann. Es gab zwar einige Beispiele, wie gesagt im Ruhrgebiet während des Kapp-Putsches ist ähnlich verfahren worden, in Spanien, wo zwischen 1936 und 1938/39 versucht worden ist, auch anders zu leben, wo die Anarchisten großen Einfluss hatten. In der Ukraine, in Russland war´s über mehrere Jahre so, dass die Anarchisten quasi die ganze Ukraine halt befreit hatten und versuchten, nach ihren Vorstellungen Kommunen aufzubauen, also Lebensgemeinschaften entgegen der Kolchosen, der verordneten Kolchosen der Bolschewiki. Also es gab immer wieder langjährige Versuche sogar, doch die sind immer wieder militärisch zerschlagen worden. Und ich denke, so eine andere Gesellschaft, ob man sie jetzt Rätedemokratie oder weiß der Henker wie nennt, man muss es theoretisch sich gut angucken, aber man kommt nicht daran vorbei, es auch in der Praxis auszuprobieren. Und das ist das angenehme bei den Anarchisten, dass die sagen, wir müssen im Hier und Jetzt schon daran gehen, diese neue Gesellschaft zu bauen und können nicht erst auf den St. Nimmerleinstag nach der Revolution warten, sondern unser Verhalten muss hier und heute schon dem entsprechen, was wir einmal wollen.

Schwarze Katze: Die Nazis hatten ja nicht so viel für die freiheitlichen Ansätze der Anarchosyndikalisten übrig. Was ist in der Zeit des Dritten Reiches und auch nach 1945 passiert?

Andreas: Ja, die anarchistischen Gruppen mussten natürlich direkt in den Widerstand gehen, in den Untergrund. Sie haben viele kleine Aktionen gemacht, haben noch versucht, bis 1938/39 ist jedenfalls noch nachweisbar, dass anarchistische Gruppen im gesamten Reichsgebiet noch im Widerstand waren, wie in Sömmerda z.B. 1938. Viele Gruppen sind auch schon eher zerschlagen worden. 1936 liefen große Prozesse gegen anarchistische Gruppierungen in Hohenlimburg. In Iserlohn gab´s starke Gruppierungen, die dann noch im Widerstand waren von 1935 bis 1937, bis die auch verhaftet worden sind.

Schwarze Katze: In Hagen gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg und in der ganzen Weimarer Republik eine aktive, anarchosyndikalistische Gruppe. In Iserlohn lebten Anarchisten, die von den Nazis verfolgt wurden. Andreas, du hast dich damit ja auch historisch beschäftigt. Könntest du bitte zu dem Iserlohner Fall etwas sagen?

Andreas: In Iserlohn war das an herausragender Stelle Karl Brenner, der schon seit 1918 aktiv war und auf anarchistischer, antiautoritärer Seite versucht hat, Gruppen ins Leben zu rufen. Die haben dann auch wirklich bis 1933 Bestand gehabt. Da ist z.B. die Gestapo 1938 einem Paul Aut, damals noch wohnhaft in der Mühltraße 6 in Iserlohn, auf die Spur gekommen, der dann allerdings schon seit Juli 1933 bis 1934 im KZ Börgermoor direkt untergebracht war und ab 1936 nach Belgien gereist ist, aber immer noch weiter von der Gestapo überwacht worden ist. So ist es sehr vielen anarchistischen Kollegen ergangen, die außer Landes gehen mussten oder aber, wie gesagt, untertauchen mussten. Karl Börder war ein ziemlich aktiver Anarchist seit dem Kaiserreich in Dortmund. Der ist dann 1933 auch gleich verhaftet worden und ist auch ins KZ Börgermoor gekommen und musste sich dann nach dieser Zeit in Börgermoor einmal die Woche auf der Polizeiwache zurückmelden. Und der hatte einfach zu viel Angst, Kontakt mit seinen alten Kollegen wieder aufzunehmen. Der hat den ganzen Faschismus quasi als Schnecke überdauert in seinem eigenen Häuschen. Er ist nach 1945 wieder aktiv geworden.

Die überlebt haben, sind nach 1945 direkt wieder aktiv geworden, haben wieder Kontakt zueinander aufgenommen und versucht ihre Vorstellungen von einem freiheitlichen Sozialismus wieder umzusetzen. Es gab nach 1945 verschiedene Gruppierungen. In Dortmund war dann die erste Gruppierung, die wieder lizenziert wurde. Die hatten in Dortmund-Dorstfeld wieder eine anarchistische Jugend. Karl Börder hat die initiiert. Der war damals schon über achtzig. Er ist dann auch 1949 gestorben. Man kann sagen, der Anarchismus hat im Nachkriegsdeutschland keine wesentliche Rolle mehr gespielt. Menschen, die vor 1933 im verschiedensten Widerstand und in anarchistischen Gruppen waren, haben dann sich anderen Gruppen angeschlossen. Sehr viele sind in die SPD gegangen und haben da auch an führender Stelle gearbeitet. Aber die anarchistischen Gruppen als Gruppen, kann man sagen, als Zusammenschlüsse hatten sie eigentlich keine Überlebenschance.

Der Kalte Krieg ist da zu nennen zum Einen und der Wohlstand, die Fresswelle und Konsumwelle nach 1950, nach dem Korea-Boom. Der Antikommunismus hat ihnen sehr viel Wind aus den Segeln genommen. Der Anarchismus ist nicht nur in Westdeutschland verfolgt worden, sondern genauso und schlimmer noch in Ostdeutschland, wo sehr viele GenossInnen in Knästen verreckt sind. Man kann sagen, nach 1952/53 kann man von einer geschlossenen anarchistischen Bewegung in Deutschland gar nicht mehr sprechen. Das ging dann erst wieder mit der 68er-Bewegung neu los, die aber zu den den Altgenossen keinen oder kaum Kontakt hatte. Obwohl der Kontakt bestand, war der sehr, sehr angespannt."

Schwarze Katze: Vielen Dank für das Gespräch! Ich sprach eben mit Andreas. Das war eine Sendung zum Thema "Anarchosyndikalismus damals". Wen interessiert, wie Anarchosyndikalismus heute aussieht, sollte morgen von 20 bis 21 Uhr wieder die Schwarze Reihe hören. Das war's für heute Abend. Wir hören uns dann morgen von 20 bis 21 Uhr wieder.

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